Kitanotstand Aachen

✅ Personalmangel in Kitas: Rette die Bildung, wer kann!

Published On: 15. November 2023

Mehr Plätze, mehr Bildung, mehr Inklusion – so sollte sich das Kita-System entwickeln. Doch die Realität sieht anders aus: zu wenige Plätze und zu wenig Personal für Bildung und gelungene Inklusion. Als Partner einer bundesweiten Recherche zeigen wir auf, wie es um die frühkindliche Bildung in der StädteRegion bestellt ist.

Von Alexander Plitsch

„Ich liebe meinen Beruf. Aber was in den letzten Monaten und Jahren mit uns gemacht wurde – da komme ich schon ins Zweifeln.” Maja Zimmer* ist Erzieherin in Aachen und hat die Folgen des Personalmangels hautnah miterlebt. Sie berichtet von Stress, Überlastung, Krankheit – und von einem Arbeitsalltag mitten im Systemversagen.

Mehr als 10.000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen in NRW. Dazu kommt ein anhaltend hoher Krankenstand, unter anderem durch die Belastung im Job. In der Erkältungszeit im Winter verschärft sich die Situation noch mal.

Die Folge: Immer wieder müssen Kitas ihre Betreuungszeiten reduzieren, einzelne Gruppen oder sogar ganze Einrichtungen schließen.

In einer gemeinsamen Recherche mit CORRECTIV.Lokal, FragdenStaat, der TU Dortmund und zahlreichen Lokalmedien zeigen wir erstmals das ganze Ausmaß dieser prekären Personalsituation auf. Demnach mussten allein die Kitas in NRW im vergangenen Kitajahr in über 16.400 Fällen den Aufsichtsbehörden mitteilen, dass sie ihr Betreuungsangebot einschränken.

Die StädteRegion Aachen ist besonders stark betroffen

Im NRW-Vergleich sieht es für die StädteRegion Aachen besonders düster aus: Fast 900 Fälle wurden im vergangenen Jahr gemeldet, jede zweite Kita war betroffen. Damit gehört Aachen zu den zehn am stärksten betroffenen Regionen im Land.

Bei diesen Zahlen gehen wir zusätzlich von einer Dunkelziffer aus. Ob alle Kitas ihre Einschränkungen überhaupt melden, ist fraglich. Dauerhafte Einschränkungen aufgrund des Personalmangels sind in den Zahlen auch nicht enthalten.

Und dann gibt es noch die Fälle, in denen Kitas zwar eigentlich nicht ihre Öffnungszeit verkürzen, aber irgendwie doch. Viele Eltern ahnen es schon am entschuldigenden Blick der Erzieherin morgens am Eingangstor – dann heißt es: „Wenn möglich, können Sie bitte Ihr Kind heute früher abholen? Wir sind unterbesetzt.”

Eine Arbeit, die krank macht

Im Rahmen der von CORRECTIV.Lokal angestoßenen Recherche wurden über 2.000 Kita-Mitarbeitende befragt. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, geben aber einen tiefen Einblick in die Folgen des Personalnotstands für Mitarbeitende, Kinder und Eltern.

Rund 60 Prozent der Mitarbeitenden geben an, dass sie dauerhaft unter großem Druck, Stress und Überlastung arbeiten. Sie sprechen von Überstunden, von abgesagten Urlauben, von Burnout. Etwa 20 Prozent der Befragten sagen, dass ihre Arbeit sie krank macht.

Fast eine von fünf Mitarbeitenden – darunter Auszubildende – berichtet, dass sie bereits ganz allein mit einer Gruppe Kindern arbeiten musste. Das ist rechtlich problematisch. Und vor allem gefährlich.

Es fehlen Plätze, es fehlt Geld

Wie passt das verheerende Bild in den Kitas eigentlich zu den Zielen der Politik? Seit 2013 haben Eltern einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten Geburtstag ihres Kindes. Theoretisch. Tatsächlich suchen viele monatelang nach einem passenden Platz. In NRW fehlen laut Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung 100.000 Betreuungsplätze.

Zugleich stehen viele Kitas und ihre Träger vor einem großen finanziellen Engpass aufgrund steigender Preise und Gehälter. Es drohen Insolvenzen und Schließungen. Die Landesregierung hat bereits 100 Millionen Euro als Überbrückungshilfe in Aussicht gestellt – doch ob die ausreichen werden, ist fraglich.

Zu den politischen Zielen gehört seit vielen Jahren auch, die Bildungsqualität in den Kitas zu erhöhen. Doch wie sollen Sprachförderung und andere Angebote aufrechterhalten werden in Zeiten akuten Personalmangels?

Mehr als die Hälfte der Befragten sagen, dass pädagogische Arbeit und Förderung kaum noch möglich seien. Die Zeit in der Kita werde zur „Aufbewahrungszeit“.

“Frau X, setz’ dich mal hier hin, wir sind lieb und es passiert nichts!”

Der Stress in der Einrichtung übertrage sich auch auf die Kinder, berichten Mitarbeitende. Manche brechen Regeln, um Aufmerksamkeit zu bekommen, andere sind traurig und verschüchtert, weil sich niemand um sie kümmert.

Eine Erzieherin aus Nordrhein-Westfalen erzählt: „Ein zweieinhalbjähriges Kind sagte zu mir: ‚Frau X, setz‘ dich mal hier hin, wir sind lieb und es passiert nichts!‘ Weil es gemerkt hat, wie gestresst ich durch die Gruppe gelaufen bin. Die Kinder merken das und entwickeln ein Verantwortungsbewusstsein für UNS. Das ist nicht richtig. Sie sollen unbeschwert spielen und an Bildungsangeboten teilnehmen dürfen. Es bricht mir oft das Herz.“

Ein weiteres politisches Ziel, das in Zeiten des Personalnotstands auf der Strecke bleibt: die Inklusion. Kinder mit Behinderungen oder sonderpädagogischem Förderbedarf können nicht angemessen und gemäß ihres Rechtsanspruches versorgt werden. Sie „laufen mit“ oder können erst gar nicht in der Kita aufgenommen werden.

Wer kann was tun?

Das System versagt und kollabiert vor unser aller Augen. Eltern und Mitarbeitende in den Kitas fühlen sich hilflos. Mit Protestaktionen machte ein Elternbündnis in Aachen im vergangenen Jahr auf die Notlage aufmerksam. Im Oktober demonstrierten 22.000 Menschen vor dem Landtag in Düsseldorf.

Doch tut sich genug? Und: Wer könnte, wer müsste überhaupt etwas tun? Die Politik, na klar, doch wie so oft ist die rechtliche Grundlage kompliziert: Die Zuständigkeiten verteilen sich zwischen Kommune, Land und Bund.

Und außerhalb der Politik? Was können die Kitas selbst, die Eltern, wir alle tun? Wie können wir die Berufe und die Arbeit in den Kitas attraktiver machen? Welche Rolle spielt die Kindertagespflege?

Wir zeigen Lösungswege auf

Gemeinsam mit CORRECTIV.Lokal und weiteren Medienpartnern wollen wir den Kitanotstand in den kommenden Wochen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Auf der Themenseite von CORRECTIV gibt es außerdem Hinweise, wie du selbst aktiv werden, die Politik mobilisieren und in deiner Nachbarschaft auf den Kitanotstand aufmerksam machen kannst.

Wir wollen in unserer Berichterstattung nicht nur Missstände, sondern vor allem Lösungswege und Vorschläge aufzeigen. Den Anfang macht Erzieherin Maja Zimmer: „An den Kindern darf nicht gespart werden, höre ich ständig. Diesen Worten sollten dann halt endlich auch mal Taten folgen. Da braucht es mehr Aufmerksamkeit, mehr Personal, bessere Ausstattung und mehr Geld.”

*Name von der Redaktion geändert