Alemannia: Angebliche „Nazikurve“, Pyrotechnik und Kommunikationsdesaster

Published On: 28. August 2024

Seit dem Jahreswechsel wird der Aufstieg von Alemannia Aachen von Medienberichten und Debatten in sozialen Netzwerken begleitet, die den Verein in ein schlechtes Licht rücken. Hinweise auf eine rechte Fanszene, eine angebliche „Nazikurve“ und dem Abbrennen von Pyrotechnik prägten das Bild. Ein kritisch einordnender Rückblick.

Von Michael Klarmann

Vor rund einem Jahr begann eine neue Saison, zu deren Beginn noch niemand ahnen konnte, dass Alemannia Aachen heute wieder im Profifußball vertreten sein würde. Damals verklebten Teile der Fanszene einen Aufkleber mit der Aufschrift: „Wir saufen – Weil wir müssen – Sektion Zittersiege“. Gemeint war: Die Leistung der Mannschaft ließ zu wünschen übrig und das Fanlager zitterte bis zur 90. Minute. Bald wurde – um im Duktus zu bleiben – gesoffen, weil es etwas zu feiern gab. Gezittert wurde nun vor Angst oder Empörung, weil es im Zuge des sich abzeichnenden Aufstiegs negative Schlagzeilen hagelte.

Zentrale Figur in den meisten Medienberichten war und ist Kevin „Chemo“ P., ein Hooligan und vor rund 15 Jahren noch aktiv in der organisierten rechtsextremen Szene. P. hatte bereits im Oktober/November 2023 in zwei Folgen („Ich habe mich bewusst für diesen Weg entschieden!“; „Drogen sind in Subkulturen halt präsent“) des Podcasts „Sucht und Ordnung“ ungewöhnlich offen und teils selbstkritisch über seinen Werdegang berichtet. Dass P. nie ein Chorknabe war und sein wird, wird beim Hören der beiden Folgen schnell klar.

P. gilt als Kopf der Hooligan-Gruppe „Boxstaffel 520“, in der auch Migranten – einige wohl mit nationalistischer Gesinnung – aktiv sind. P. unterhielt Kontakte zu Teilen der Vereinsführung der Alemannia und zu Teilen des Spielerkaders. Mit einer karitativen Initiative halfen er und sein eingetragener Verein armen und obdachlosen Menschen. Die Alemannia unterstützte P. dabei ebenso wie renommierte Gaststätten. In einer durfte P. lange die Speisen zubereiten, die er abends auf dem Hansemannplatz verteilte, in der anderen fand an Heiligabend eine Weihnachtsfeier für Arme und Obdachlose statt.

Das Trauma in der Fanszene

Aktuell ist die Reportage „Alemannia und das Problem mit rechten Hooligans“ der „Sportschau“ erschienen, die all dies darstellt und wieder für viel Diskussionsstoff sorgt. Etwas älter ist der lange Beitrag „Doppel-Comeback in Aachen: Von rechts überholt“ in der Zeitschrift „11 Freunde“. Beide Berichte zeichnen nach langer Recherche fast akribisch nach, warum Alemannia Aachen in die Schlagzeilen geraten ist.

Diese Berichte blicken auch zurück auf die Zeit, als zwischen 2011 und 2013 rechte und rechtsoffene Ultras und Hooligans die antirassistischen „Aachen Ultras“ aus der Kurve prügelten. Dieses Trauma sitzt bei einigen bis heute tief. Viele seit dem Jahreswechsel erschienenen Medienberichte über die heutige Aachener Fanszene und eine mögliche Nähe zum rechten Spektrum lassen sich nur verstehen, wenn man jenes Trauma mitdenkt.

Ausgerechnet die „Sportschau“, die nun einen sehenswerten Beitrag veröffentlicht hat, hatte am 11. April auf ihrer Website mit „Alemannia Aachen siegt, die Fans zittern vor rechter Gewalt“  aber auch den für die aktuellen Debatten wohl kontraproduktivsten Artikel veröffentlicht. Denn die breite Fanszene hat auf dem Tivoli keine Angst – wohl aber jene Fans, die vor vielen Jahren Ziel massiver Anfeindungen und Gewalt waren und sich bis heute nicht oder nur sehr selten wieder auf den Tivoli trauen.

P. hingegen musste in den Berichten und Debatten als zentrales Übel dafür herhalten, dass die Fanszene der Alemannia wieder von Rechten geprägt oder bedroht sei. Die meisten Berichte suggerierten, dass seine Vergangenheit als Neonazi nicht abgeschlossen sei und er und andere Teile der Fanszene dem radikal rechten Lager zuzurechnen seien. Alemannia Aachen hingegen geriet nach fragwürdigen und missverständlichen Postings zu Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und die AfD selbst in die Kritik.

Schlagzeile auf Schlagzeile

Bald darauf veröffentlichte die englischsprachige Ausgabe der „Deutschen Welle“ am 21. Februar den Artikel „German football club suffering from right wing links“. Am 29. Februar legte die „Zeit“ nach: „Die Alemannia und die Brandmauer“. Am 1. März berichtete die WDR-Lokalzeit.

Problematisch war, dass der Vorwurf des Rechtsextremismus im Zuge dieser Berichte und der Proteste anlässlich des „Potsdamer Treffens“ ein guter medialer Aufhänger war – aber nicht ganz den Tatsachen entsprach. Für die Vereinsführung war es ein Leichtes, glaubhaft zu machen, dass es in den letzten Jahren keine oder nur sehr selten rechtsextreme Vorfälle im Stadion gegeben habe. Auch „Chemo“ sei nie durch rechtsextreme oder rassistische Äußerungen aufgefallen, hieß es. Am Ende waren die Berichte überdies kontraproduktiv, da sich weite Teile der Fanszene verunglimpft fühlten. Der Vorwurf der „Lügenpresse“ oder der „linksrotgrünen“ Kampagne gegen den Verein kursierte in weiten Teilen der Fanszene.

Bekannte Vergangenheit

2018 fand in Aachen ein großer Prozess statt – auch „Chemo“ saß auf der Anklagebank. Schon damals wurde deutlich, dass die rechten Kontakte und Aktivitäten fast vollständig der Vergangenheit angehörten und das Umfeld von Kevin P. sich kaum noch für Politik interessierte. Es ging um Prostitution, Drogen, Türsteher, Rocker und Tattoostudios, siehe: „Haftstrafe für rechten ‚Loverboy‘“ und „Die späte Reue des verliebten Zuhälters“.

All das hat Underdog P. bereits ausführlich im Podcast „Sucht und Ordnung“ geschildert. Am 5. März erzählte er dies erneut auf dem Portal Twitch in einem „Realtalk“ mit dem Musiker „Cashmo“. Kurz darauf veröffentlichte das Magazin „11 Freunde“ den langen Hintergrundartikel. Der Beitrag wärmte zwar auch Altbekanntes neu auf und kam nicht ohne die üblichen Hinweise aus, dass „Chemo“ und seine Mitstreiter weiterhin (extreme) Rechte seien – der Artikel lenkt aber auch erstmals umfassend den Blick auf ein anderes Problemfeld.

Fan-Experte Robert Claus, der in der aktuellen „Sportschau“-Reportage ähnliches sagt, wurde dabei so zitiert: „Die eine [Gefahr] ist, dass sich in Aachen wieder stärker extrem rechte Organisationen bilden, deren Gewalt eine progressive Fankultur bedroht. Eine zweite Gefahr besteht eher darin, dass der Verein näher an die Organisierte Kriminalität heranrücken könnte.“ Im Juli titelte dann die Lokalzeitung „Versuchter Totschlag: Hooligan aus Aachen in U-Haft“ sowie „Versuchter Totschlag: Wie der Aachener Hooligan Kevin P. zum Verdächtigen wurde“.

Berichtet wurde, dass der „mehrfach vorbestrafte Kevin P., der aus Würselen stammt und in Aachen lebt, […] als einer der führenden Köpfe der Aachener Hooligan-Szene [gilt]. Er pflegte zudem eine Nähe zu Alemannias Aufsichtsratsvorsitzendem Marcel Moberz und Geschäftsführer Sascha Eller, die er auf auf seinem Instagram-Kanal als ‚Freunde‘ bezeichnete. Verschiedene Medien hatten die zumindest ungewöhnliche Verbindung von Kevin P. und den Alemannia-Funktionären vergangenes Frühjahr thematisiert, auch unsere Zeitung.“

 

Aufstiegsfeier der Alemannia am Ende der vergangenen Saison (Foto: Stadt Aachen / Andreas Steindl).

 

Ein kleines bisschen Horrorshow

Alemannia-Präsident Andreas Görtges betonte gegenüber der „Sportschau“, dass man sich, sollten sich die aktuellen Vorwürfe gegen P. bewahrheiten, „ganz klar von ihm distanzieren“ werde. Ansonsten fühlen sich der Verein und sein Aufsichtsratsvorsitzender Marcel Moberz durch die „Sportschau“ erneut verunglimpft und zu Unrecht in die rechte Ecke gestellt.

P. soll die ihm vorgeworfenen Taten – versuchter Totschlag und Körperverletzung – als Türsteher im Rotlichtmilieu begangen haben. Eine Nähe zur Halbwelt oder (Klein-)Kriminalität wäre allerdings kein Alleinstellungsmerkmal von Alemannia Aachen in der Sportwelt. Es gibt genügend andere Sportvereine verschiedener Sportarten – oder auch Musiker und Künstler – bei denen eine Nähe zur Halbwelt besteht oder sogar glorifiziert wird.

Eines jedenfalls lässt sich aus den Medienberichten der letzten Monate bilanzieren: Kevin „Chemo“ P. wirkte ein wenig wie das kleine bisschen Horrorshow, für das der brutale Schläger Alex in dem Kultfilm der Hooligan-, Skinhead- und Punkszene „Clockwork Orange“ steht. Doch es gibt in Aachen und auf den Rängen des Tivoli auch andere Menschen, und zwar aus der (vermeintlich) bürgerlichen Mitte, die in den sozialen Netzwerken, in Bürgerinitiativen und anderen Vereinen extrem rechte, rassistische und menschenverachtende Inhalte und Meinungen verbreiten. „11 Freunde“ thematisierte etwa seinerzeit auch einen missionarischen Eifer gegen die Bündnis-Grünen und gegen die Ampel-Regierung von Aufsichtsratschef Moberz. Mehr Klicks verspricht indes wohl P., der irgendwie nicht gesellschaftsfähig wirkende Underdog.

Bei der Alemannia sorgten aber auch andere für Schlagzeilen. Präsident Andreas Görtges fiel nach dem „Aufstieg vom Sofa aus“ bei der spontanen Aufstiegsfeier durch das Abbrennen von Pyrotechnik auf. Bei der regulären Aufstiegsfeier vor dem Tivoli wurde die Bühnentechnik durch das Abbrennen von Pyrotechnik, teils durch Spieler, beschädigt.

Trainer Heiner Backhaus gab später zu, nach dem Aufstieg ebenfalls gezündelt zu haben. Später distanzierte er sich davon und warnte vor den Gefahren. Im Zuge der Debatte wurde indes deutlich, dass der zuweilen liebevoll als „Klömpchensklub“ beschriebene Verein nicht nur in der monatelangen Berichterstattung eine teils schlechte Außenkommunikation betrieben hat, sondern rund um den Aufstieg auch intern lücken- und fehlerhaft mit Sponsoren kommunizierte.

 

Titelbild: Pyrotechnik, Symbolbild