Macchia statt Öcher Bösch
Aachen im Jahr 2080: Klimatisch liegt unsere Stadt dann in den italienischen Abruzzen oberhalb der Adria. Dolce Vita in bella Oche – wäre das nicht schön? Von wegen.
Von Bernd Müllender
Herrliche Aussichten: Wenn sich die Erhitzung der Erde so weiterentwickelt wie bisher, liegt Aachen im Jahr 2080 wetter- und klimatechnisch in den Abruzzen, etwa auf Höhe von Rom. Genauer: Aachens Klima entspräche dem heutigen Örtchen Basciano, nicht weit von der Adria. Eine US-Forschergruppe hat eine interaktive Karte bereitgestellt, die zeigt, welche Stadt weltweit wohin klimatisch umzieht.
Dann gucken wir doch mal in dieses Aachen 2080: Wie werden unsere heutigen Kinder als Rentnerinnen und Rentner leben? Mediterranes Oche, klingt doch toll. Toskana an der Wurm. Dolce Vita aquensis, Zitronenhaine in der Soers, beste Rieslinglagen an den Hängen des Lousbergs. Und passt nicht Bascianos Ortsteil Madonna delle Grazie in römisch-katholischer Eleganz bestens zu unserem Hohen Dom zu Aachen? Dem Klimawandel sei Dank für diese schönen Aussichten.
Einerseits. Andererseits ist unsere Stadt darauf nicht vorbereitet. Die Sommer in Aachen werden im Durchschnitt 5,6 Grad wärmer sein, sagen die Forscher voraus. Und deutlich trockener. Im Winter dagegen geht der Niederschlag um fast 20 Prozent hoch. Per Regen natürlich. Schnee ist Schnee von gestern. Sommerfluten kommen vermutlich konzentriert auf wenige Unwetter mit großen Überschwemmungen.
Massive Hitze heißt: 2080 ist der weite Aachener Wald („Öcher Bösch“) im Süden der Stadt seit vielen Jahren Macchia. So heißen Gebüsch und Gestrüpp in vernebelnd schönem Italienisch. Die letzten stolzen Bäume der Aachener Forste gab es vielleicht rund um die geschützte Wald-Enklave Entenpfuhl mit ihren verbliebenen Krüppelkiefern. Bis sie, ohnehin vorgeschädigt, neulich von immensen Fluten weggerissen wurden.
Das dreiblättrige Kleeblatt als Glücksbringer
Seit jeher klagt Aachen, dass man kaum nennenswerte Seen und Flüsse habe. 2080 gibt es gar nichts mehr. Der frühere Hangeweiher ist längst eine verkarstete Muldenlandschaft, bestenfalls für Skater geeignet, so es die noch gibt. Gillesbach und Wurm sind lange schon Geschichte, auch der See im früheren Westpark ist heute Steppe, passend zum nahen Steppenberg.
Vegetation ist überall stark reduziert, mittlerweile gilt ein seltenes dreiblättriges Kleeblatt als Glücksbringer. Nostalgiker können die früheren Buchen, Eichen und Tannen im geschützten Baumpark Melaten im Innenbereich des früheren Klinikums bewundern. Der heutige Tierpark hat seit dem Versiegen des Beverbachs kein Gewässer mehr; in der weiten Trockenschüssel haben sich unkontrolliert große Populationen von Erdmännchen (und -weibchen) breitgemacht. Putzig!
Den Stauweiher Diepenbenden kennt man nur noch aus Heimatchroniken. Erst kamen die langen Dürreperioden. Kein Wasser kann man schlecht stauen. Und wenn sich dann mal Wasser nach Gewitter-Sturzfluten sammelte, heizte es sich so schnell auf, dass schmierige Blaualgen alles übernahmen. Das Restaurant Haus am See wurde erst selbstironisch zum Haus am Tümpel, dann zum Haus am Loch. Dann war Schluss.
Das Trinkwasser aus den trockenfallenden Eifel-Talsperren ist 2080 schon lange rationiert. Der Schwarzmarkt für Wasser wird aus dem Südviertel gesteuert; er ist weit lukrativer als es nach dem 2. Weltkrieg die dortige Clankriminalität mit tonnenweise geschmuggeltem Kaffee und Zigaretten aus Belgien war.
Blockrandbebauung und Sauna-Häuserzeilen
Das enge Aachen ist den veränderten Bedingungen nicht gewachsen. Es fehlen starke klimaresiliente Bäume, Bäume, Bäume, die man vor einem halben Jahrhundert massenhaft hätte pflanzen müssen, statt die Bestände regelmäßig als hinderliches Autobahnbegleitgrün wegzufräsen. Und es bräuchte überall begrünte Fassaden und Dächer, ein funktionierendes Regenwasser-Management und luftige Innenstadt-Behausungen statt Blockrandbebauung und viel zu enge Sauna-Häuserzeilen.
Im Sommerdreivierteljahr von März bis November heizt sich alles besonders intensiv auf. Mitteleuropäische Häuser sind für lange Glutphasen nicht geeignet, die Asphaltteppiche befeuern die Temperaturen zusätzlich. Aachen schwitzt, Aachen leidet, hunderte Hitzetote gibt es jedes Jahr.
Lange schon dringen Verdurstende illegal in die letzten verbliebenen Kirchen ein und leeren hastig die Weihwasserbecken. Die Aktivistin Luisa N. (85) von den Uromas For Restfuture lobt dieses „widerständische Klimafolgen-Fringsen“. Der unbelehrbare Bischof predigt derweil von Diebstahl als schwerer Sünde und von der Verführung durch den Leibhaftigen. Die Dombesucher, die ohnehin nur noch zum Abkühlen kommen, lachen ihn schallend aus.
Aachen 2080: Seit den Deichdurchbrüchen vor ein paar Jahren an Hollands Küste sind Shuttle-Ausflüge an die kühlenden Nordseestrände zwischen Lüttich und Maastricht sehr beliebt. Nur wer es sich leisten kann, reist zu Erfrischungsurlauben auf die Lofoten oder gleich in die Wellness-Oasen am Polarkreis. Andere jobben auf Ananasfarmen in Grönland oder – modernes Work&Travel – pflegen hochalpine Gletschergärten.
Auch heute schon Rekordzahlen
Ach, so schlimm wird es schon nicht werden? Alles dystopische Fantasie von Schwarzmalern? Dann hören Sie sich mal bei den vielen tausend Klimaflüchtlingen um, die im lange ungenutzten Tivoli (hier spielte früher eine „Alemannia“) und in den Zeltlagerstädten rund um den Europaplatz vegetieren. Die werden ihnen von ihrer ehemaligen Heimat Sahelzone erzählen. Die Vereinten Nationen haben die rapide weitende Wüstenei kürzlich zum „nicht-überlebensfähigen Glutspot für die Spezies Homo Sapiens“ erklärt.
Punktuell kann man die Zukunft übrigens heute schon erleben: Im Februar hatten wir in Aachen 4,3 Grad mehr als im langjährigen Mittel, im Mai fielen 327 Prozent Regen, 220 Liter statt üblicher 69. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge für Aachen von knapp 800 Litern pro Jahr war schon Ende Juli erreicht.
Womöglich wird irgendwann auch jede Macchia weggeschwemmt sein. Aachens mediterraner Klima-Zwilling Basciano, wo es sogar 6,3 Grad wärmer wird, liegt 2080 übrigens in der heute schon glutheißen andalusischen Kargebene.
Auf dieser Webkarte kann man andere solcher Klimawanderungen für tausende Städte finden. Stockholm, Oslo und Helsinki werden in gut 50 Jahren enge Nachbarn in der Nähe von Zagreb, New York zieht ins heiße Arkansas, Washington an den Mississippi. London wird das neue Bordeaux, Tunis geht nach Eritrea, Moskau rückt klimatisch 1.500 Kilometer südwärts fast an die türkische Grenze. Und die deutsche Hauptstadt ist schon wieder umgezogen, erst Bonn, dann Berlin, jetzt Bologna.
Hintergründe zur genutzten Methodik gibt es in dieser Studie.