Viktoriaschule in Aachen

✅ Die bunte Viktoriaschule

1. Juli 2024

150-jähriges Bestehen – mit leichter Verspätung: Eine Festschrift zum Jubiläum der Viktoriaschule in Aachen blickt zurück auf Historisches und Schräges, auf prominente Alumni und einen Schulzirkus, der zur ganz großen Nummer wurde.

Von Bernd Müllender

So manche weiterführende Schule in Aachen kann auf große Besonderheiten verweisen: Das Kaiser-Karls-Gymnasium (KKG) galt lange als Eliteschule Nummer eins, etwa mit dem Schüler und späteren TV-Entertainer Jürgen von der Lippe und dem Hohen Dom zu Aachen als Schulkirche.

Da sind hochbeleumundete Gesamtschulen oder das Bischöfliche Pius im reichen Südviertel. Hier lassen der katholische Geldadel und Nachfahren der Industriedynastien den Nachwuchs pauken.

Das taten auch Armin Laschet, ehemaliger Kanzlerkandidat, sein CDU-Parteikollege Marcel Philipp (zehn Jahre OB der Stadt) und Thüringens kurzzeitiger FDP-Ministerpräsident Thomas Kemmerich, der sich 2020 von der AfD austricksen ließ, mit den Stimmen der Neonazipartei gewählt wurde und nach drei Tagen Bockigkeit zurücktrat.

Und da ist die Viktoriaschule, bürokratisch „Ersatzschule“ genannt, weil privat betrieben, hier von der Evangelischen Kirche Rheinland. Jetzt hat die Schule an der Normaluhr eine Festschrift herausgebracht zum 150-jährigen Bestehen, mit Corona-bedingter vierjähriger Verspätung allerdings: „Ab Anfang 2020 war plötzlich lange Zeit so viel Wichtigeres zu tun“, sagt Schulleiter David Krause entschuldigend. So lernen wir erst vier Jahre nach dem Jubiläumsjahr eine sehr besondere Schule kennen.

Die Viktoriaschule, gegründet 1870 – Namensgeberin war später Preußens Kronprinzessin Victoria, hat sich als höhere Mädchenschule jahrzehntelang verdient gemacht um die Integration jüdischer und katholischer Schülerinnen in die evangelische Erziehung.

Was der ehrenamtliche Schul-Archivar Hans-Jürgen Serwe (selbst Vater einer Viktoria-Schülerin) jetzt mit zwei Lehrern über zehn Jahre an tausenden Dokumenten zusammengetragen hat, wäre woanders annähernd eine Habilschrift.

Hier ist es ein unterhaltsames und bilderpralles Zeugnis von 150 Jahren Schul- und Gesellschaftsleben in Aachen. Schillernd, bunt, schräg manchmal, historisch voller Anekdoten und Nachdenkenszeilen, ohne Selbstbeweihräucherung. Und tatsächlich erfrischend leicht lesbar.

 

Aachen, Ostern 1897: Klassenfoto der Abschiedsklasse der Viktoriaschule mit Direktor Dr. Geschwandtner in der Mitte. (Quelle: Schularchiv Viktoriaschule Aachen)

 

Vom Arbeitsamt zum Viktoria

Weltlicher als die Integration jüdischen Lebens ist das Viktoria-Alleinstellungsmerkmal der vergangenen 35 Jahre durch den einmaligen Schülerzirkus Configurani. Entstanden aus einer Nachmittags-AG, mit dem maximal empathischen Krenne Aymans als Zirkusdirektor, der 1989 vom Arbeitsamt für eine AB-Maßnahme (Arbeitsbeschaffung) testweise zum Viktoria geschickt, zunächst als Freizeitpädagoge eingestellt und später zum besten Lehrer Deutschlands gewählt wurde (und mit Ende dieses Schuljahres viel beweint in Rente geht).

Längst ist Configurani als Schülerzirkus quer durch Europa unterwegs – in diesem August bei der European Juggler´s Convention nahe Porto, im Oktober zehn Tage Tournee in Griechenland, mit Auftritten an der Deutschen Schule in Athen und anschließend auf Paros. Das Viktoria hat seinen eigenen Schulrhythmus, hier dauert die Unterrichtsstunde immer 60 statt 45 Minuten – und im Zirkus geht die Doppelübungsstunde freitags von 16 Uhr oft bis nach Mitternacht.

Auffallend: Die später Prominenten unter den SchülerInnen des Viktoria sind vielfach Kulturmenschen. Zum Beispiel Schauspielerin Jasmin Schwiers, die Jazz-Sängerin Sara Decker, der Trommler der Aachener Szenecombo Lagerfeuer Yann Le Roux oder Kasalla-Keyboarder René Schwiers, der das Viktoria „ein Paradies für Musikinteressierte“ nennt.

Oder auch die CDU-Kulturpolitikerin Isabel Poensgen-Pfeiffer („Bildende Kunst war prägend im Curriculum“), die bis 2022 sogar NRW-Kultusministerin war – als Pius-Schülerin hätte sie es vielleicht nur zur prägenden Finanzministerin gebracht.

Und da ist der YouTuber Julien Bam (Viktoriakarriere 1999-2008). Er schreibt so frisch wie altersweise: „Die Möglichkeit zu haben, Wissen zu erlernen, ohne dafür zahlen zu müssen, ist schon ´ne ganz coole Sache.“ Bam verfilmte 2018 sein schräges Schultagebuch am Viktoria und hat heute auf seinen Kanälen über zehn Millionen Follower.

 

Festschrift zum 150-jährigen Bestehen der Viktoriaschule in Aachen

Cover der Festschrift (Quelle: Viktoriaschule Aachen, Gestaltung: Hans-Jürgen Serwe, Foto: Carl Brunn)

 

Starke Frauen im Portrait

Festschrift-Kurator Hans-Jürgen Serwe weist eigens auf die Exschülerin und spätere Fotografin Martha Maas hin: die erste Frau mit eigenem Handwerksbetrieb in Aachen. Bei zwei anderen Ehemaligen aus lange vergangenen Zeiten hat er intensiv recherchiert: Zum einen ist da Edith Holländer, Mutter von Anne Frank, die auch auf dem Viktoria lernte und zeitweilig am Pastorplatz 1 wohnte.

Ihr widmet Serwe ein langes und detailliertes Portrait inklusive faksimilierter Originale aus der Schulzeit bis 1916, etwa aus ihrem Poesiealbum. Seit 2020 wächst auf dem Viktoria-Schulhof eine Rosskastanie, entstanden aus einem Sämling jenes berühmten Kastanienbaums, der vor Anne Franks Wohnung in Amsterdam wuchs und 2010 pilzbefallen umstürzte.

Und da ist die CDU-Politikerin Emmi Welter, die maßgeblich die Wiedereröffnung der Viktoriaschule nach dem Krieg angezettelt hat. Sie saß von 1950 bis 1961 im Aachener Stadtrat und kam, Fachgebiet Schulpolitik, 1964 als Nachrückerin in den Bundestag nach Bonn.

„Konrad Adenauer wollte keine Frauen in seinem Kabinett“, schreibt Serwe, „Emmi Welter organisierte daraufhin eine Art Sitzstreik von Parlamentarierinnen, bis Adenauer nachgab und Elisabeth Schwarzhaupt als erste Ministerin nominierte.“

Und das alles durch die als so trocken verrufenen Evangelen, in der Katholikenhochburg Aachen? Noch eine Überraschung: Die heute etwa 700 SchülerInnen teilen sich sehr paritätisch auf – ein Drittel ist evangelisch, ein Drittel katholisch, ein Drittel nix davon oder sogar vereinzelt muslimischen Glaubens. „Wir waren immer interreligiös“, fügt Direktor Krause hinzu, „und verstehen uns als bunte, offene Schule“.

Die Festschrift ist für 20 Euro in der Schule und im Buchhandel erhältlich.

 

Viktoriaschule Aachen 1870 – 2020 : Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum / Herausgeber: Viktoriaschule Aachen und Verein der Förderer und Freunde der Viktoriaschule ; Redaktion: für die Schulgeschichte und den Dokumentationsteil: Hans-Jürgen Serwe, für die übrigen Beiträge: Dr. Gerd Katthage, Dr. Karl-Wilhelm Schmidt

Titelbild: Heike Lachmann